Werkzeuge der Stimmarbeit

InstrumentenbauerInnen brauchen eine sehr genaue Vorstellung des Instrumentes, das unter ihren Händen entsteht. Sie verfügen über detaillierte Kenntnisse der Materialien und deren Eigenschaften, über Proportionen, Winkel, Einstellungen und deren Wirkung auf den Klang. Als Sänger, bzw. Sprecher werden wir selbst zum Instrument. Allerdings sind wir uns dessen oft nicht bewußt, wir besitzen nur ein unscharfes Bild unserer klanglichen Möglichkeiten, und darüber, wie wir diese ins Spiel bringen können.

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I Wissen, was geschieht

“Stimme als schöpferischer Akt”, lassen Sie uns nachschauen, was dies auf physiologischer Ebene bedeutet.

Am Beginn der Stimmproduktion steht eine Absicht. Die Absicht zur Kommunikation, eine Botschaft, der Impuls sich mitzuteilen, akustische Reize zu erwidern, sich auszutauschen. Über das Nervensystem wird dieser Impuls wetergeleitet und löst einen Atemreflex aus. Die Atemmuskulatur weicht zurück, Atemluft fällt ein, wird ausgetauscht, bringt auf dem Umkehrweg unsere Stimmlippen in Schwingung, ein Ton entsteht. Dieser wird im Rachenraum verstärkt, der Körper wird zum Resonanzraum, zum Leiter von Schwingung und Klang. Er wird geformt durch unsere individuelle Körperbeschaffenheit und durch den emotionalen und geistigen Gehalt unserer Aussage. Er wird gestaltet zu Lauten, Sprache und Gesang.

Allein meine Absicht veranlaßt einen innerkörperlichen, äußerst komplexen, in Intensität und Gestalt exakt bemessenen Vorgang zur Stimmproduktion. Heißt das, wir müssen eigentlich nicht drüber nachdenken, was geschieht? Nein. Denn uns ist die Möglichkeit gegeben, unsere Körperfunktionen und damit uns selbst beeinflussen und hemmen zu können. Dies geschieht zumeist unbewusst: anstatt uns flexibel auf eine aktuelle Situation einzustellen, reagieren wir in Mustern, in Anlehnung an frühere Erfahrungen, an Rollen und Selbstbilder, die unser Überleben gesichert haben, und an eine bestimmte gesellschaftliche Identität.

Erlauben Sie mir zu behaupten, daß Unfreiheiten in der Stimme, Einschränkungen, Störungen, Blockaden, auf unserem Eingriff in den natürlichen Vorgang der Stimmproduktion beruhen, und dass wir aufhören müssen, uns selbst zu sabotieren, um den freifließenden schöpferischen Prozess, den ich oben beschrieben habe, wiederherzustellen. Denn, “wenn wir aufhören, das Falsche zu tun, geschieht das Richtige von selbst”. (F.M. Alexander)

Inwieweit beeinflussen unsere Gewohnheiten den Vorgang der Stimmproduktion?

Unsere Gewohnheiten greifen auf vielfache Weise in den Stimmprozess ein. Unsere Haltungsgewohnheiten wirken auf die Atmung, übermäßige Muskelspannungen beeinträchtigen die Beweglichkeit des Kehlkopfes. Eine erstarrte Mimik wirkt sich auf die Artikulation aus. Wir haben Schwierigkeiten von autoritären Aufgabenbereichen in eine weichere, intimere Emotionalität zu wechseln, und uns mit einer ängstlich angepassten Stimme in der Bahnhofshalle Gehör zu verschaffen. Dies sind nur grobe Beispiele für die individuellen Gründe, die uns daran hindern, unser Stimmpotenzial auszuschöpfen.
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II Wahrnehmen, was geschieht

Um einen reibungslosen Ablauf der Stimmproduktion gewährleisten zu können, brauchen wir vor allem ein Werkzeug: eine genaue sensorische Wahrnehmung. Wir müssen unseren Kehlkopf, unsere Atembewegung, unsere Haltung, unseren Standort im Raum, Wärme und Tonus unserer Muskulatur spüren können, um sie adäquat einsetzen zu können. Wir müssen aufmerksam dafür werden, wo wir uns selbst aus dem Gleichgewicht bringen, zuviel Kraft aufwenden oder uns zuwenig einbringen in die Aktion.

Spätestens seit Evelyn Glennie (“Touch the sound”) wissen wir, dass wir Klang nicht nur hören, sondern auch fühlen können, d.h. wir fühlen die Stimmresonanz im Körper und können dadurch das Tönen, Sprechen, Singen enorm unterstützen. Diese Wahrnehmungsfähigkeit kann gezielt geschult werden und durch spezielle Übungen angeregt und intensiviert. Die Entwicklung unserer Resonanzfähigkeit verringert den Kraftaufwand in der Atmung und Kehlspannung. Da, wo zuviel Atemkraft oft einen “hohlen”, überspannten Klang bewirkt, erhält Resonanz die Wärme und Berührungskraft von Klang.

Eine weitere Quelle, die uns zu Verfügung steht, ist die Verknüpfung von Hören und Fühlen. Wo fühle ich den Klang, den ich höre? Welche Einstellung meines Körpers wird durch eine bestimmte Klangvorstellung ausgelöst? Anhand der Kontrolle über die Hörwahrnehmung und die vorbereitende Hör-vor-stellung läßt sich unser System in die gewünschte Haltung und Klangbereitschaft versetzen. Insbesondere da, wo es über das physiologische “richtig” oder “falsch” in ästhetische und kreative Bereiche hinausgeht, regt die Verbindung “hören-fühlen” unser Klanggedächtnis an, hilft, Vokal- und Klangfarben zu unterscheiden und subtile Mittel der Sprach-, bzw. Klanggestaltung einzusetzen.

Und - nicht zuletzt, aber dies ist der uns vertrauteste Weg: unser Gehör muß sensibilisiert und trainiert werden, um die Qualität und die Quelle eines akustischen Reizes erkennen und differenzieren zu können. Auf diese Weise werden wir entscheidungsfähig über die physiologisch angemessene, inhaltliche,  situative, künstlerische und therapeutische Effizienz von Klang.

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III Der bewusste Gebrauch

Es ist Franziska Martienssen-Lohmann, die in ihrem Buch “Das bewusste Singen” festgestellt hat, dass die alte, vor allem auf Nachahmung beruhende Gesangsausbildung heute abgelöst wird durch Methoden, die die Selbständigkeit des Schülers in den Mittelpunkt stellen. Eine derartige Entscheidungsfähigkeit im Umgang mit dem eigenen Instrument und dem musikalischen/sprachlichen Material erfordert eine bewusste Steuerung der Stimmproduktion in all ihren ganzheitlich wirksamen Aspekten. Dies stellt LehrerInnen und SchülerInnen gleichermaßen vor eine hohe Verantwortung, birgt aber auch unendliche Freiheit. Klangbildung wird zu einem Auswahlverfahren aus einer Fülle von persönlichen, körperlichen, sprachlichen und musikalischen Motiven. Das neu gewonnene Selbst-Verständnis “ich kann” geht einen Dialog ein mit den äußeren Erfordernissen “ich sollte” (Stil, Anlass, Raum usw) und führt zu einem überzeugenden “ich will” in Ausdruck, Gestaltung und Interpretation.

Unsere Körpersinne lassen sich auf vielfältige Weise kennenlernen und schulen. Seien es Alexander-Technik, Feldenkrais, Atemarbeit nach I. Middendorf, Eutonie oder die Methode Atem-Tonus-Ton, Funktionale Stimmarbeit und viele andere mehr, sie alle versuchen die Qualität unserer Körperfunktionen anzuregen und zu verbessern und sind mittlerweile fester Bestandteil der Stimmarbeit. Dennoch ist das Werkzeug in der künstlerischen oder präsentativen Aktion nicht die Übung sondern unsere Präsenz, die eine adäquate Koordination unserer Mittel gewährleistet. Es ist unsere ganzheitsbezogene Bewusstheit, die unsere Aussage zu einer schöpferischen und künstlerischen Aussage macht.

Wie fühlt man die Kehlschwingung?

Hauchen Sie mit entspanntem Mund- und Rachenraum (z.B. mit vorgestelltem Vokal a) und wandeln Sie den entstehenden Laut stetig in einen gesungenen Vokal a um.

Was bedeutet Atemstütze?

Die Atemstütze, oder auch “inspiratorische Gegenspannung”, bedeutet eine bewusste Aktivierung der (Ein-)Atemmuskulatur zur Gestaltung eines Klanges oder einer Text- oder Liedphrase. Wie bei einem Fahrradschlauch, aus dem ohne Ventil die Luft einfach verpuffen würde, übernehmen vielfache Muskelkräfte die Aufgabe, die Ausatemdauer zu verlängern und gestaltbar zu machen. Diese Aktivierung sollte “erwärmend” sein, d.h., es wird eine elastische, flexible Einstellung der Atemmuskulatur gesucht, anpassungsfähig an einen spontanen Ausruf, an einen Bühnentext, eine Oper.

Sollte Atmung gezielt geschult werden?

Im Umgang mit Atmung gibt es vor allem zwei wesentliche Ansätze.

Zum einen wird sie als frei fließende Kraft gesehen, die ungehindert wirken können sollte. Diese Freihet wird durch Umwelteinflüsse, seelische Belastungen, Fehlhaltungen und unökonomische Bewegungen eingeschränkt, Indem wir diese belastenden Faktoren auflösen und auch durch unsere Hingabe an den selbsttätigen Atemrhythmus können wir zu allen an den Atem gebundenen persönlichen freifließenden Kräften zurückkehren.

Der zweite Ansatz ist die von sängerischer Seite lange überstrapazierte Gestaltbarkeit von Atem zugungsten von Phrasierung und  Dynamik. In der sängerischen Arbeit kommen wir tatsächlich ohne die willentliche Einwirkung auf den Atem nicht aus. Allerdings sollte dieser in bewusster Balance zur Körperresonanz und zu einer Haltung des Geschehenlassens stehen. Es ist eine Illusion, physische und expressive Kräfte vollständig kontrollieren zu können. Eine zu angestrengte Atmung läuft Gefahr, Emotionen und kreative Impulse zu (unter-) binden und kann zu einem steifen, ausgehöhlten Effekt im Klang führen.
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IV Stellen Sie Fragen

Stimmarbeit kann zum einen Einzelphänomene verdeutlichen, sollte sich aber zum anderen an Ihre Ganzheit richten, und dies gelingt sehr gut über Fragestellungen aus dem Moment. Jedes Problem kann solch eine Fragestellung sein, zum Beispiel die Frage nach mehr Beweglichkeit, Ausdruck oder Wärme im Klang. Fragen zielen immer auf den Kontext einzelner Elemente. Beweglichkeit wird mit Reduktion von Spannung im Kehlbereich assoziierbar, mit der Anregung der Kaufunktion und Artikulation, aber auch mit einem besseren Kontakt zu den Füßen. Mit Leichtigkeit und Balance, aber auch mit der Integration von Widerständen usf. Je individueller die Fragestellung desto persönlicher ist die Antwort, und desto höher ist die Wahrscheinlichkeit eines wirklichen Transfers des Erlernten in das eigene System.
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V Zur Entwicklung der Vorstellungskraft

Unsere Vorstellungskraft hilft uns, unsere Botschaften zu klären und eindeutig werden zu lassen. Eine ungenaue Absicht ist die erste Falltür unadäquaten Stimmgebrauchs. Mit dem Kommunikationsimpuls können sich unbewusste Einstellungen, Emotionen oder Selbstbilder verbinden, die sich kontraproduktiv auf unsere Stimme und unsere Verständlichkeit auswirken. Vortragsängste können Konzerte sabotieren, Selbsteinschätzungen können im Kontrast zur küstlerischen Rolle stehen usf. Auf der Ebene der Vorstellung und auch im “So.tun-als-ob” lassen sich divergierende Motive erkennen und  verwandeln.

Umgekehrt gilt: je präziser unsere Vorstellung, desto genauer gelingt die Umsetzung unserer Absicht. In der spontanen Kommunikation übernimmt unsere Wahrnehmung diesen Part. Wer bin ich, was will ich, wer ist mein Addressat, wie ist die Situation, der Ort, meine Botschaft? All diese Informationen gestalten ein und den selben Satz zu hundert Varianten. In der künstlerischen oder konzeptionellen Kommunikation ist es die Bildkraft unserer Vorstellungen, die vielfältige sinnliche und emotionale Reaktionen und Handlungsmotive in uns weckt und unserer Aussage dadurch Leidenschaft und Überzeugungskraft verleiht.

Unsere Vorstellungskraft, Mutter und Motor aller schöpferischen Prozesse, beruht auf Erfahrungen. Diese werden von uns in ihre Bestandteile zerlegt, gehen neue Verbindungen ein, werden in neue Zusammenhänge gestellt. Ein nicht allein technischer sondern kreativer Gebrauch der Stimme erfordert dieses spielende Begreifen, das Ausprobieren, die Aha-Erlebnisse, das Fehler-machen, das Risiko und das damit verbundene Lampenfieber . . . erst dann kann sich die Vorstellungskraft in wirkliche Höhen schwingen, erst dann kann es ein Erfinden geben, ein Gestalten, das nicht nur reproduziert sondern neu erschafft in diesem Moment. Dies ist der Grund, aus dem Pädagogik gerne in einem frühen Alter einsetzt, in dem Spielen, Fallen und Aufstehen noch selbstverständlich sind und unser Gehirn vor lauter Verknüpfen wollen Purzelbäume schlägt. Aber - wenn Sie mich fragen - diese Möglichkeit, über unsere Grenzen und uns selbst hinaus zu gehen, diese Möglichkeit, uns selbst neu zu erfinden, jeden Tag neu, die dürfte nie aufhören, unser Leben  lang. . .